»Jeder gute Roman ist ein historischer Roman.« (Alfred Döblin)
Das Programm von LiteraTurm widmet sich einem Leitthema zeitgenössischer Literatur und fächert es kaleidoskopisch auf. Unter dem Motto vergangen verdichtet geht es in diesem Jahr um Literatur und Geschichte, genauer gesagt, um die Geschichte des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Gegenwartsroman. Oder wie Hans-Ulrich Treichel es formuliert, um »die Fiktion von etwas, was wirklich stattgefunden hatte«.
Bei diesem Thema hätte das Genre des historischen Romans nahe gelegen, der belehrend und unterhaltend aus vergangenen Zeiten erzählt. Doch dessen zwar marktgängiger, wenn auch oftmals schlichter Realismus steht in der Gefahr, die zivilisatorischen Brüche und gesellschaftlichen Eruptionen des letzten Jahrhunderts durch lineare Geschichten zu glätten. Das Programm von LiteraTurm bestimmen dagegen avancierte Erzählformen, die das Disparate der Realgeschichte nicht zum Unterhaltungsroman nivellieren. Stattdessen entwickeln sie Erzählmodelle, die sich der Frage stellen, wie dieses 20. Jahrhundert literarisiert werden kann.
Die meisten der vorgestellten Autoren nähern sich der Vergangenheit aus dem Hier und Jetzt oder phänomenologisch ohne erzählendes Zentrum. In beiden Fällen aber werden historische Ereignisse nicht zu Kulissen aufgetürmt, sondern fließen unmerklich, angedeutet und oft nur indirekt in eine Handlung ein, die doch zutiefst von ihnen durchdrungen ist.
Um die Deutung der Vergangenheit ringen in nicht wenigen der vorgestellten Romane die Lebenden mit den Toten. Zwischen Erinnerung und Geschichte entwickelt sich so eine produktive Spannung, die dem Leser eine Vorstellung davon gibt, wie konstruiert die literarische Repräsentation von Geschichte ist: Sei es als Mischung aus Wissen(-wollen) und Nichtwissen(-wollen) wie bei Arno Geiger oder als raffiniert gebauter Erinnerungsprozess, der den anthropologischen Gehalt vogelkundlichen Beobachtens und Erforschens in der NS-Zeit und der DDR freilegt wie bei Marcel Beyer. In Hans-Ulrich Treichels Romanen (zuletzt »Anatolin«) birgt das von ihm mittlerweile ironisierte Schweigen und Verdrängen der Nachkriegszeit die traumatischen Erlebnisse von Flucht und Vertreibung. Jenny Erpenbeck erzählt dagegen am Beispiel eines Hauses im Brandenburgischen, wie die Geschichte in eine scheinbar zeitlose Idylle einbricht. Das erzählende Sachbuch Irina Liebmanns »Wäre es schön? Es wäre schön!« oder der Roman »Havemann« von Florian Havemann sind literarische Biographien prominenter Persönlichkeiten der DDR-Geschichte. Erzählt Liebmann die für das 20. Jahrhundert exemplarische Lebensgeschichte eines jüdischen Kommunisten und Intellektuellen, so changiert »Havemann« zwischen opulenter Familiensaga und historischer Wahrhaftigkeit. Georges-Arthur Goldschmidts »autofiktionale« »Savoyer Trilogie« basiert auf dem eigenen Erleben von Gewalt, Demütigung und Identitätsverlust als Folgen der Trennung von den Eltern und Flucht vor den Nationalsozialisten. Wie Gerhard Roth (»Das Alphabet der Zeit«) gehört er zu den Autoren, die traumatische Kindheits- und Jugenderfahrungen in Literatur überführen. Unter den nach 1965 Geborenen, wie der Trägerin des Deutschen Buchpreises Julia Franck (»Die Mittagsfrau«), dominieren als Deutungsmuster von Geschichte familiäre Kontinuität und die Unentrinnbarkeit eines moralischen Erbes. Mit der Erzählung »Bryant Park« von Ulrich Peltzer, die vom Terroranschlag des 11. September wie durchschlagen ist, endet der zeitliche Horizont des Festivals, an dessen Beginn Christof Hamanns Roman »Usambara« steht, der von botanischen Expeditionen in eine afrikanische Kolonie des Deutschen Kaiserreichs berichtet. Trotz dieses Bogens von über hundert Jahren sind zwischen den Romanen überraschende Analogien und Korrespondenzen zu entdecken.
Geschichte meint das vergangene Geschehen ebenso wie die Texte, die es beschreiben und deuten. Die Maxime, dass der Historiker analysiert, was war, und der Schriftsteller imaginiert, wie es gewesen sein könnte, reicht nicht aus, um die Geschichtswissenschaft von der Literatur zu unterscheiden. Selbst Historiker wie Reinhart Koselleck erkennen an, dass die Grenze nicht zwischen Empirie und Fiktion, sondern zwischen Geschichte und sprachlichen Zeugnissen zu ziehen sei. Wenn aber der Begriff der Fiktion zu unscharf ist, um den Unterschied zwischen Literatur und Geschichte zu bezeichnen, ergibt sich daraus eine Reihe spannender Fragen: Etwa diejenigen, was die Literatur dem Faktenwissen entgegensetzt, wie die Geschichtswissenschaft auf den literarischen Deutungsanspruch reagiert und ob tatsächlich Konkurrenzen im Einfluss auf die kollektive Erinnerungskultur existieren. Eine Podiumsdiskussion und Gespräche mit Historikern und Autoren im Anschluss an die Lesungen werden dieser in der Wissenschaft virulenten und in der zeitgenössischen Literatur hochaktuellen Debatte nachgehen.
vergangen verdichtet bietet die Möglichkeit, die Gegenwärtigkeit im Erzählen von Geschichte zu entdecken. Die bei LiteraTurm vorgestellten Romane fliehen nicht vor den Realitäten des 21. Jahrhunderts, sondern ziehen das Vergangene – wie Katja Lange-Müller es formuliert – mit einem großen Netz dahin, wo es eben auch hingehört: nämlich in die Gegenwart.
Sonja Vandenrath